Bei meiner Arbeit als Sexologin stosse ich oft auf die Vorstellung, dass eine Erektion die Voraussetzung für sexuelle Lust und Intimität ist – und dass ohne Erektion der Wunsch nach Sex quasi nicht existiert und auch gar nicht möglich ist. Diese Annahme ist jedoch stark vereinfacht und lässt ausser Acht, wie komplex und vielfältig menschliche Sexualität wirklich ist. In diesem Blog möchte ich eine andere Perspektive eröffnen: Sex und Intimität sind mehr als nur eine Frage von Steifheit!
Erektion als Voraussetzung für Sexualität?
Viele Männer* fühlen sich stark durch die Leistungsfähigkeit ihrer Erektion definiert. In unserer Kultur, die Sex oft mit Penetration gleichsetzt, kann der Gedanke, keine Erektion zu bekommen, schnell zu Scham und infolgedessen zu Angst führen. Die erektile Dysfunktion, wie sie in der Fachsprache auch bezeichnet wird, ist nicht nur ein körperliches „Phänomen“, sondern greift auch den Selbstwert eines Mannes* und somit die Männlichkeit an. Gleichzeitig wird sie auch für Frauen* oftmals als Bestätigung verstanden.
Aber was passiert, wenn keine Erektion entsteht oder nicht so „funktioniert“, wie Mann* es erwartet? Bedeutet das automatisch, dass die sexuelle Lust ausbleibt?
Die Bedeutung des sexuellen Begehrens und der sexuellen Lust
Das sexuelle Begehren und die sexuelle Lust sind weit mehr als nur körperliche Phänomene. Sie haben eine emotionale, psychische und körperliche Wirkung. Das Begehren und die Lust werden durch unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Beziehung zu uns selbst und zu anderen sowie durch das, was wir gerade in unserem Leben erleben beeinflusst. Das bedeutet, dass auch ohne Erektion „sexueller Appetit“ (Begehren) und die sexuelle Lust entstehen können. Besonders zentral scheint mir, dass sexuelle Intimität unterschiedlich gelebt werden kann, die nicht unbedingt auf eine „funktionierende“ Erektion angewiesen ist.
Sex ist mehr als nur Penetration!
In meiner Praxis sprechen wir über Sexualität. Doch was bedeutet das Wort überhaupt? Meistens ist es unklar, wo Sexualität beginnt und aufhört.
Sexuelle Intimität umfasst viele Facetten – Berührungen, Zärtlichkeiten, Oralsex, gemeinsames Erkunden des Körpers des anderen oder auch Gespräche über sexuelle Wünsche. Ein „fehlender“ Penis in der Penetration bedeutet nicht, dass sexuelle Nähe nicht stattfinden kann.
In meinem Blogartikel zum Thema „Slow Sex“ kannst du dich über das Element der Langsamkeit und Sexualität informieren. Auch dort ist die Erektion, sowie der Orgasmus, zweitrangig.
Der Teufelskreis der Performance
Der psychische Druck, der ein Ausbleiben der Erektion mit sich bringt, ist nicht zu unterschätzen. Stets „performen“ zu müssen, führt oft zu einem Teufelskreis: Je mehr Druck aufgebaut wird, desto schwieriger wird es, eine Erektion zu bekommen oder sexuelle Lust zu empfinden. Das führt zu Stress und kann die Situation weiter verschärfen. Das Loslassen von Erwartungen und der Fokus auf Genuss, Entspannung und das Erleben können helfen, Lust wiederzufinden.
Was kann ich tun, wenn die Erektion ausbleibt?
Bei vielen Männern* kommt Frust oder Wut auf, wenn Erektionsstörungen auftreten. Der erste Schritt besteht darin, zu erkennen, dass das Problem nicht nur körperlich bedingt ist. Stress, Ängste, Beziehungsprobleme oder allgemeine Lebensumstände können genauso eine Rolle spielen. Denn der Körper und Geist sind eine untrennbare Einheit und beeinflussen sich gegenseitig.
Folgende Tipps wirken unterstützend
- Kommunikation: Sprich mit deiner Beziehungsperson. Teil deine Gefühle mit. Ein vertrauensvolles Gespräch kann den Druck mindern und neue Wege für Intimität eröffnen.
- Fokus erweitern: Sexualität ist mehr als Penetration! Entdecke mit deiner Beziehungsperson, wie du neue Formen der Intimität und Lust leben willst. Neue Wege, welche den Leistungsgedanken schmälern, ermöglichen mehr „echte“ Nähe und Verbundenheit zu dir und deinem Gegenüber.
- Professionelle Unterstützung: Wenn Erektionsstörungen länger anhalten (> sechs Monate) oder zur Belastung werden, sollte zunächst eine medizinische Abklärung in der Abteilung für Urologie erfolgen. Wenn keine körperlichen Einflüsse die Erektionsschwierigkeiten verursachen, ist eine Sexualtherapie zu empfehlen. Dort setzt du dich mit dem Ausbleiben der Erektionsschwierigkeiten auseinander und lernst, wie du damit umgehen und wie du diese beeinflussen kannst.
Die Chance für deine Sexualität
Erektionen sind nicht das einzige, was sexuelle Lust ausmacht. Wenn wir anfangen, Sexualität als etwas Ganzheitliches zu sehen – als eine Verbindung von Körper, Geist und Emotionen –, können wir den Druck von „Leistung“ und „Funktion“ abbauen. Intime Momente sind vor allem dann erfüllend, wenn sie mit Aufmerksamkeit, Neugier und Liebe gefüllt sind – und das unabhängig davon, ob eine Erektion stattfindet oder nicht.
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